Ein Kommentar über Alltagssexismus, zu wenige Frauen in der alternativen Musikszene – und wieso eine Frauenquote und der Begriff „Female fronted“ nicht unproblematisch sind.
Wann warst du das letzte Mal auf einem Konzert? Ich weiß, es ist traurig darüber nachzudenken... Seit vier Monaten sind „Großveranstaltungen“ wie Festivals und Konzerte bereits verboten. Langsam gibt es zwar wieder den ein oder anderen vorsichtigen Versuch – etwa mit bestuhlten Biergarten-Shows mit viel Abstand zwischen den Gästen oder anderen Sitzkonzerten – doch von einem lebendigen Punk-, Hardcore- oder Metalkonzert voller Energie und Schweiß ist das noch weit entfernt. Online-Konzerte sind zwar für Fans sowie Künstler*innen eine entsprechende Übergangslösung – aber eben auch nicht mehr. So schwer es auch ist: Aus Solidarität zu den Alten und Schwachen unserer Gesellschaft ist das alles richtig so. Doch ist es auch erschreckend, wie normal dieser festivallose Sommer inzwischen für uns geworden ist. Und auch auf meinem Blog hier bleiben die Reviews über die vielen kleinen Konzerte, die mir eigentlich immer so viel Spaß machen, mehr oder weniger aus. Der letzte richtige Artikel ist – über die Coronakrise. Wow.
Doch nutzen wir diese konzertfreie Zeit doch mal, um uns Gedanken über ein größeres, übergeordnetes Thema zu machen. Einem, dem immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl wir ihm jeden Tag begegnen – eben leider auch in unserer Szene. Denn es gibt ein Problem, das viele in seiner Größe noch nicht ganz erkannt haben.
Über die, die den Ton angeben
» Wenn es sich bei Punk wirklich darum dreht, den Status quo in Frage zu stellen, gehört es auch dazu, das Patriarchat herauszufordern. «
– Alice Bag, Punksängerin und Aktivistin aus Los Angeles im Ox Fanzine #150
Probiert doch mal was aus. Geht durch eure Plattensammlung oder scrollt am Handy durch eure Mediathek und achtet darauf, wie viele der Bands Frauen in ihren Reihen haben. Und?
Nicht nur auf den großen Festivals kommt es zum Alltagssexismus (man kennt die Schilder, die Sprüche und die Idioten), sondern auch im kleineren Backstage, vor der lokalen Bühne oder beim Bandcasting. Spielt das Mädel wirklich schlechter Gitarre als ihr Mitbewerber, oder wird sie von vornherein schon anders bewertet, weil sie eine Frau ist? Natürlich würde niemand sagen, dass es am Geschlecht liegt, wie gut eine Person ihr Instrument beherrscht – ist ja auch kompletter Bullshit. Doch spielt für unser Unterbewusstsein auch immer eine Rolle, was wir als Normalität gewohnt sind und welche Eindrücke unsere Wahrnehmung bisher geprägt haben. Und das sind eben Männer, die die Musik machen, aufnehmen, mischen und auf der Bühne spielen – von Paul McCartney und Ozzy Osbourne über Kurt Cobain und Billie Joe Armstrong bis hin zu Chester Bennington und Oliver Sykes. Eine männerdominierte Gesellschaft bringt eine männlich geprägte Musikkultur mit sich. Ein Kerl an Schlagzeug oder Gitarre wirkt dabei kompetenter als eine Frau. Einfach so. Irgendwie ein Armutszeugnis, wenn man bedenkt, dass die Hälfte der Bevölkerung weiblich ist.
Neben einem toxischen Bild von Männlichkeit kann diese männerdominierte Wahrnehmung gleichzeitig auch gerade jungen, potentiell angehenden Musikerinnen/Technikerinnen/etc. die Perspektive und die Motivation nehmen, neue Dinge auszuprobieren oder ihrer Leidenschaft nachzugehen. Denn: bei all den Männern fehlen die entsprechenden weiblichen Vorbilder, mit denen Frauen sich identifizieren können. Die Folge sind unterrepräsentierte Frauen auf der Bühne, die wiederum als Vorbilder für jüngere Mädchen fehlen. Ein Teufelskreis.
Screaming – der gendergerechte Gesang
Weniger um Härte geht es im Pop. Vielleicht scheint deswegen hier die Emanzipation, was Frauen in der Musik angeht, schon weitaus fortgeschrittener. Immerhin gehören weibliche Stars wie Katy Perry, Miley Cyrus, Pink, Nicki Minaj, Rihanna, Lady Gaga, Taylor Swift oder Britey Spears zur absoluten Tagesordnung (Industrie und Musik mal hin oder her: von dieser Quote können wir nur träumen!). Häufiges Problem jedoch auch hier: übertriebene Schönheitsideale, klischeehafte Geschlechterrollen und eine betont sexualisierte Inszenierung. Wovon die alternative Musikszene jedoch auch alles andere als frei ist...
Das Problem mit „Female fronted“ und einer Pflicht-Quote
Eine Sache haben ARCH ENEMY und PARAMORE dann aber doch gemeinsam: Sie sind beide die Sängerin einer reinen Männerband. Oft bezeichnen sich solche Bands mit einer Frontsängerin als „female fronted“, was zunächst einmal Empowerment ausstrahlt und positiv wirkt. Doch ist es schlussendlich wieder eben dieses Einordnen nach Geschlecht und Hervorheben einer (vermeintlichen) Besonderheit; und genau diese Wahrnehmung wollen wir doch eigentlich überwinden. Auch wird die eigentliche Musik mit dem Begriff überhaupt nicht beschrieben, vielmehr beschreibt er nur das Geschlecht der Frontsängerin – egal ob sie eben Death-Metal oder Alternative Rock singt. „Female fronted is not a genre“ lautet deshalb ein gängiger Slogan. Sarah Lohr von der Punkband AKNE KID JOE singt im Song „Sarah (Frau, auch in ner Band)“ treffend:
Ich finde, das Ideal sollte eine Szene sein, in der Menschen abhängig von ihrer Musik, ihrem Skill und ihrer Haltung eine Bühne bekommen, egal welches Geschlecht, Gender und natürlich auch welche Hautfarbe, Religion, Sexualität, Herkunft etc. sie haben. Und dabei ist eine verpflichtende Quote – ob man will oder nicht – diskriminierend. Sie reduziert und bevormundet die entsprechenden Künstler*innen allein auf ihr Geschlecht/... – das musikalische Talent wird dabei in keinster Weise berücksichtigt oder wertgeschätzt. Und ist für den Abend im lokalen Szeneclub nur noch ein timeslot frei, bekommt ihn im Zweifel die Band, in der zufällig eine Frau ist, auch wenn die andere Newcomer-Band (ohne Frau) objektiv betrachtet besser und mit zehn Mal so viel Leidenschaft bei der Sache ist.
Eine Perspektive: Awarness und Selbstreflexion
Zugegebenermaßen klingt dieses Ideal zwar schön, doch ist der oben erwähnte Teufelskreis von unterrepräsentierten Frauen auf Bühnen nicht so einfach zu durchbrechen. Vielleicht braucht man erst eine Line-Up-Quote auf Festivals als Übergangsinstrument, bis sich die Wahrnehmung in der Szene so weit eingependelt hat, dass es keiner Regulierung mehr bedarf. Doch legitimiert der Kampf gegen Diskriminierung gleich Diskriminierung? Eine schwierige Herausforderung.
Als Grundvoraussetzung muss die Szene zumindest erstmal ein absoluter safe space sein, in der sich jede*r willkommen und sicher fühlt. Intolerantes Verhalten muss sofort angesprochen und thematisiert werden. Das reicht vom besagten Alltagssexismus in Unterhaltungen, an der Bar oder der Security bis hin zu tatsächlichen Grabschern im Moshpit oder beim Stagediven (sofortiges Hausverbot und Anzeige). Sehen und eingreifen – jede*r hat hier eine Verantwortung! Auch Veranstalter*innen und Booking müssen ihre Arbeit stets reflektieren und jeder Frauenband eine unvoreingenommene Chance geben. Ansonsten natürlich Musiker*innen, Fotograf*innen, Techniker*innen, Security, etc. besonders fördern und unterstützen. Wenn du als Frau Bock hast, aktiv zu werden, trau dich gerne! Es freuen sich mehr Leute in der Szene darüber, als du wahrscheinlich denkst.
Insgesamt sind wir zwar noch weit vom Ziel entfernt, aber doch irgendwie auf dem richtigen Weg (ähnlich wohl auch gesamtgesellschaftlich). Im Indie- und moderneren Punk-/Hardcore-Bereich scheint mir zumindest die Awarness auf jeden Fall präsent zu sein. Im vergangenen Jahr habe ich viele Bands mit Frauen gesehen: OF COLOURS, THE TEX AVERY SYNDROME, RED VEIL, RAUCHEN, LEGAL HATE, DARK OATH, ARCH ENEMY und BLOND. Und dazu gibt es noch eine Menge weitere aus der Region! Zum Beispiel 8KIDS, PENTASTONE, ROSES FOR HELENA, THURSDAY IN MARCH, PAPIERFLIEGER, POSTMODERN PHANTASY, WITH HER FALL, SCHLÜSSELKIND, VRROW, BEL BLAIR, ELDA oder LIZARD REPORT.
Ich hoffe, meine Gedanken zu dem Thema waren nicht zu theoretisch oder missverständlich... Ich will niemanden ankreiden, sondern Bewusstsein schaffen für eine Problematik, die strukturell verankert und in ihren Folgen oft nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Absichtlich nicht angesprochen habe ich übrigens kritische Songtexte. Das Thema um Kunstfreiheit ist einfach nochmal viel zu groß (Grundsätzlich gilt hier aber: Kunst darf alles. Entscheidend in der Bewertung ist die Intention und der Mensch dahinter; gearbeitet werden muss auch an einem reflektierteren Medien- und Kunstkonsum, gerade bei jungen Hörer*innen).
Wer jetzt noch Lust hat, sich weiter mit dem Thema Feminismus und Frauen in der Szene zu befassen, findet beim Web-Magazin Music Is Her Passion (Instagram: @musicisherpassion) oder im Mäd Mäm Zine (Instagram: @maed_maem) interessante Interviews und Texte zum Thema. Vielen Dank auch nochmal ans Mäd Mäm Zine für die viele Aufklärung.